Historische Musikwissenschaft
Die Historische Musikwissenschaft befasst sich mit ideellen und alltäglichen, künstlerischen und gesellschaftlich-funktionalen Erscheinungsformen der Musik und des Musizierens. Zu ihren Gegenständen zählt auch die Jahrhunderte lange theoretische und pädagogische Annäherung an Musik. In der Wissenschaft ist Spezialisierung notwendig, aber Gegenstand der Grundausbildung ist der Überblick über die Musik von der Antike bis in die Gegenwart. Im Rahmen der Spezialisierung öffnet sich den angehenden MusikhistorikerInnen eine größere Vielfalt – einschließlich Themengebieten wie der Geschichte der Musikästhetik und der Musikarchäologie. Wofür auch immer sich die Historische Musikwissenschaft interessiert, sie betrachtet tönende Gestalten und/oder deren Kontexte in historischen Situationen.
Im Mittelpunkt der Ausbildung steht die notierte Kunstmusik. Allerdings sieht sich die Historische Musikwissenschaft heute in der Lage, die Geschichte aller Musik- und Musizierarten zu erforschen. So hat im Laufe der letzten Jahrzehnte auch der Werkbegriff (wonach sich die Tonkunst in fest umrissenen Kunstwerken zeigt) an Bedeutung verloren. Werkkenntnisse machen heute einen kleineren Teil der erstrebten Fachkompetenzen aus, wie auch Lebensläufe von Künstlern. Es ist dennoch eine wichtige Aufgabe der Historischen Musikwissenschaft, den Kunstbegriff und die ihm zugrunde liegenden Wertungsprinzipien sowie populäre Konzepte wie ›Leben und Werk‹ zu analysieren. Gleichermaßen bedeutsam ist es, diese Wertungsformate für neue Entwicklungen offenzuhalten, kritische Kompetenzen zu schulen und zum allgemeinen Kunstverständnis beizutragen. Bestimmte Regionen oder gar die Vorrangstellung des Europäischen und Deutschen haben keine normative Bedeutung für das Selbstverständnis des Faches, vielmehr werden gesellschaftlich und ideologisch bedingte Denkmodelle der Vergangenheit kritisch hinterfragt.
Die Forschungsfelder der Lehrenden umfassen in Halle u. a. Grundlagenforschung, Editionspraxis, Biographik und Analyse, Sozialgeschichte der Musik, Geschichte des Konzertwesens, Musikikonographie sowie Geschichte der Musiktheorie, Ästhetik und Musikpädagogik. Traditionell sieht sich die Historische Musikwissenschaft in Halle in der musikgeschichtlich außergewöhnlich reichen Kulturlandschaft der Region verankert. Übergeordnete geschichts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen und kontextbezogene Musikanalyse und Stilkunde gehören in Halle jedoch genauso dazu wie das Studium historischer Gegenstände (Texte, Instrumente, Räumlichkeiten, Bilder, musikalisch aktive Personen, Tondokumente) und Philologie. Die Vernetzung der Interessen mit Musikethnologie und Systematischer Musikwissenschaft findet ebenfalls statt wie die Zusammenarbeit mit benachbarten Disziplinen, die in Halle in großer Vielfalt vorhanden sind. So formieren sich Fragestellungen, die historisch-systematisch bzw. historisch-anthropologisch sind, all dies ohne Vernachlässigung der traditionellen Kernkompetenzen der Historischen Musikwissenschaft wie Chronologie, Philologie und Notationskunde. Die breite Präsenz der Musikwissenschaft in Halle untermauert solche Tendenzen bereits in der Grundausbildung.
Die ständige Aktualisierung der historisch-musikwissenschaftlichen Methodologie, von vielschichtiger Interdisziplinarität bis hin zur kritischen Kulturwissenschaft, ist ein wichtiges Anliegen aller Mitglieder des Fachgebiets, ohne dass der Bezug zum Standort verloren ginge. Auch engagiert sich die Historische Musikwissenschaft in der Erforschung der Fachgeschichte und der historischen Texte zur Musik. So bildet sich die Kompetenzbasis für die Arbeit in der Journalistik, Kulturverwaltung, Musikdramaturgie und -industrie in ihrer ganzen Vielfalt vom Künstlermanagement bis zur Verlagsarbeit.
Die Historische Musikwissenschaft in Halle besitzt seit Generationen ihren wichtigsten Schwerpunkt in der Editionspraxis. Im Mittelpunkt stehen wissenschaftliche Werkeditionen zur Musik des 18. Jahrhunderts. Damit zählt das Institut zu den führenden Forschungsstätten weltweit. Ergebnisse des Akademienprojekts Hallische Händel-Ausgabe, flankiert durch jährliche internationale Konferenzen und das Händel-Jahrbuch, finden zudem in der Programmgestaltung der Händel-Festspiele in Halle ihren Niederschlag. Darüber hinaus verfügt das Fachgebiet in Halle über eine Vielzahl an außeruniversitären Kontakten (z. B. mit mehreren Verlagshäusern, dem Mitteldeutschen Rundfunk, Opernhaus und Stiftung Händel-Haus Halle, Institut für Aufführungspraxis Michaelstein, Telemann-Zentrum Magdeburg, Bach-Archiv Leipzig, den Kulturverwaltungen und Vereinen der Region). Den Studierenden kann über Praktika der Weg in unterschiedlichste Berufsfelder geebnet werden. Alle Vertreter des Faches sind außeruniversitär und international aktiv und können die Studierenden über Möglichkeiten des Wissenschaftsfaches in der beruflichen Anwendung und in der Forschung informieren. Überdies kommt der Historischen Musikwissenschaft in der Lehre auch eine zentrale Rolle in der Vertiefung der Wissenskompetenzen der Musikpädagogik zu. Zugleich wendet sich die Historische Musikwissenschaft der Geschichte der Musikpädagogik als Forschungsthema zu.